Sonne tanken für den Herbst

Zugvogelfahrten 2018

BALJE. Jedes Jahr, wenn sich die Zugvögel im Norden auf die Reise in den Süden machen, bietet der Verein „Bildungsschiff Niederelbe“ Tages- und Übernachtungstouren mit der „Anna-Lisa“ an. Nicht nur für Landratten, wie TAGEBLATT-Redakteurin Susanne Helfferich, ein unkalkulierbares Abenteuer.

Wo Oste in die Elbe übergeht und die ersten Buhnen auftauchen, versammeln sich die Kormorane, spreizen ihr Gefieder in der Sonne. Wie auf einer Perlenkette haben sie sich auf dem Steindamm aufgereiht. „Wo die sind, gibt es viele Fische“, erklärt Ralf Bruchmann. Wir sind auf der Elbe und es schaukelt ein bisschen. Mit sechs Knoten geht es Richtung Nordsee. Die Gänserufe werden leiser. Bald ist nichts weiter zu hören als das Schnurren des Motors und das Plätschern des Wassers. Diesig ist es hier auf der Elbe. Schemenhaft taucht Cuxhaven im Nichts auf; zumindest die riesige Werkhalle von Ambau, einem Windkraftanlagenbauer.

Mit der Anna-Lisa aufs Wasser zum Gänsegucken. Kurz vor 10 Uhr lag das Natureum noch im Morgendunst. Die Anna-Lisa mit gerefften Segeln am Anleger. 16 in der Mehrzahl wenig segelerfahrene Landratten sind gekommen, um vor dem Oste-Riff und von der Elbe aus Vögel zu gucken. Mit einem Rucksack voller Wechselzeug und Regenklamotten sowie einem Schlafsack geht’s an Bord; vom Festland auf unbekanntes Terrain. Ich war noch nie auf einem Segelschiff.

Die Anna-Lisa bietet Platz für 16 Passagiere

Stefan Tyedmers, der Vereinsvorsitzende, stellt das Schiff vor. Bis zu 16 „Mann“ kann das 112 Jahre alte Segelschiff Anna-Lisa zusätzlich zur Mannschaft mitnehmen. Der Besan-Ewer, der nur einen Tiefgang von 1,50 Meter hat, ist ideal für Exkursionen in flachem Gewässer.

Früher war er als Handelsschiff unterwegs und konnte als Flachbodenschiff leichter anlanden. Im etwa 20 Meter langen Schiffsbauch der Anna-Lisa sind Messe, Küche, vier Kajüten á vier Kojen und zwei Toiletten untergebracht. Hinter dem Maschinenraum liegt die Schlafkammer der dreiköpfigen Mannschaft.
Marei, Birgit, Heidi und ich sind die Ersten an Bord und haben den ersten Zugriff. Wir nehmen die erste Kammer links. Eine weise Entscheidung, wie sich spät in der Nacht zeigen wird. Marei und ich liegen oben in den Etagenbetten. Beide sind wir aufgeregt. „Ich habe schon immer davon geträumt mit so einem Segelschiff unterwegs zu sein“, erzählt die Otterndorferin, die selbst zwei Jahre Besitzerin eines kleinen Segelbootes war. „Das ist aber gar nicht zu vergleichen.“
Ralf Bruchmann weist unten ein: Das Kollisionsschott, hinter dem eine der Schlafkammern liegt, muss bei Fahrt geschlossen sein, die Toiletten arbeiten mit Unterdruck, Ordnung halten, damit nichts durch die Gegend fliegt. Dann legt er eine Liste vor, in die sich alle eintragen müssen. „Die wird an Land gemailt. Falls wir abbuddeln, wissen die, nach wem sie suchen müssen.“ Da ist er wieder, der Kloß im Bauch …

Sobald sich alle Reisende in den beengten Verhältnissen breitgemacht haben, geht es an Deck weiter. Stefan gibt der Crew die Sicherheitseinweisung. Der wichtigste Satz: „Eine Hand für Euch, eine Hand fürs Schiff“; soll heißen: immer schön festhalten. Der zweite Ratschlag ist fast genauso wichtig: „Immer schön den Kopf einziehen.“ Auf einem Segelschiff gibt es so einiges, woran sich der Kopf stoßen lässt. Dann die Ernüchterung: Wir haben zwar wunderschönen Sonnenschein, aber keinen Wind. Die Segel bleiben gerefft.
Schipper Michael Zabel sieht meine Druckarmbänder gegen Seekrankheit unter den Ärmeln hervorlugen und schmunzelt: „Da ist nichts heute. Das ist ein Ententeich, allenfalls kommt mal eine Dampferwelle“, beruhigt er mich.

Foto Susanne Helfferich

Er wirft den Motor an. Der Deutz Sechs-Zylinder-Vier-Takt-Motor hat 100 PS. Und während die Anna-Lisa Richtung Mündung tuckert, packen die ersten ihre Ferngläser und Fotoapparate aus. Endlich Vögel!

Rechts und links tummeln sich die Gänse zu Hunderten. Grau- und Nonnengänse sind es. Der Lärmpegel spricht dafür, dass noch Tausende in den Wiesen hinter der Uferlinie rasten. Unsichtbar für uns. „Hier ist ja richtig Betrieb“, sagt Ralf, „so viele Graugänse sieht man hier sonst nicht.“ Im vergangenen Jahr hätten in der Ostemündung große Mengen von Brachvögeln gerastet. Davon sind heute nur wenige da. Dafür Silberreiher, leicht zu erkennen am weißen Gefieder. Nach einer halben Stunde auf der Oste taucht der erste Seehund neben uns auf. „Die jagen bei Hochwasser und ruhen sich bei Niedrigwasser auf den Sandbänken aus“, erläutert Ralf.

Sonne tanken für den nahen Herbst

Platt ist das Wasser, kein Lüftchen regt sich. Hin und wieder taucht der Kopf eines Seehundes auf, die Gänse sind weit weg am Ufer. Schläfrigkeit macht sich breit. Schicht um Schicht pellen wir uns aus den Segelklamotten. Sonne tanken für den nahen Herbst.
„Ein Schweinswal“, ruft Stefan. Plötzlich sind alle wieder wach, zücken ihre Kamera. Ich hab ihn verpasst. Es bleibt die einzige Aufregung des Nachmittags. Nach einer Stippvisite auf der Nordsee – oder war es vielleicht doch noch die Elbe? – wendet Michael. Er ist auch im Hauptberuf Schipper, fährt täglich mit einem Versorgungsschiff von Cuxhaven nach Neuwerk. Er steuert die ANNA-LISA durch die Medemrinne auf Höhe des Altenbrucher Bogens. Ralf zeigt auf einer Seekarte, wo wir entlang schippern, zwischen Medemgrund und Neufelder Watt. Stefan – von Haus aus Biologe und angestellt beim NLWKN (Niedersächsischer Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz) – erzählt, dass die Medemrinne im Zuge der Elbvertiefung mit dem Aushub zugeschüttet werden soll. „Das wird Auswirkungen auf die Fließgeschwindigkeit und auf die Deiche haben“, sagt er. Aber auch die Seeschwalben würden leiden. Sie leben dort auf der Dithmarscher Seite der Elbe, mit dem Watt und vielen kleinen Prielen. Wenn die Priele versanden, verschwinden auch die Seeschwalben.
Mit ablaufend Wasser erreichen wir wieder die Oste-Mündung. Mit lautem Geschnatter begrüßen uns die Gänse am Ufer, links sonnen sich drei Seehunde auf einer Sandbank. Ferngläser und Kameras werden gezückt. Stefan macht den Anker klar. Kaum mehr als anderthalb Meter ist hier das Wasser tief. Da es in der Nacht wieder ansteigen wird, gibt er ordentlich Kette dazu; gut 20 Meter.

Das Abendprogramm beginnt: Suppe kochen für 19 Mann in einer Mini-Küche, Abwasch per Hand und Klampfen in der Messe. Die Hartgesottenen verbringen die halbe Nacht an Deck unter einem gigantischen Sternenhimmel. Ich schlüpfe in meine Koje. Schließlich will ich im Morgengrauen Gänse gucken.

Um 2 Uhr ist es vorbei mit dem Ententeich. Wir haben Hochwasser. Und nicht nur das. Es schaukelt und rumpelt. Ich bin hellwach und taste nach den Druckarmbändern. Nur nicht aufrichten, dann wird’s erst recht übel. Am Bug des Schiffes poltert die Ankerkette. Ein Glück, dass wir dort nicht schlafen. Überall knarrt es. „Kümmert sich jemand?“, fragt Heidi. Schritte sind zu hören. Nur nicht aufstehen. Gegen 4 Uhr ist auch das überstanden.
Kaum eingeschlafen, kommt wieder Bewegung in unsere Kajüte. Birgit und Marei krabbeln aus den Schlafsäcken. Der Morgen graut und die Wildgänse rufen. Von der Wärme des Vortages ist an Deck nichts mehr zu spüren. Dick eingemummelt in Winterjacken lauschen wir dem Spektakel in den Uferwiesen, die Kamera griffbereit, warten auf den ultimativen Moment: auf den Aufstieg eines Gänseschwarms vor der aufgehenden Sonne. Überall steigen die Biester auf, nur nicht da, wo wir sie haben wollen; und vor allem viel zu weit weg, um sie zu fotografieren. „Es riecht nach Kaffee“, meint schließlich Birgit und wir steigen zum Frühstück in den Schiffsbauch.

Tausende Gänse steigen über Belum auf

Um 11 Uhr wirft Michael wieder den Motor an: „Ich wäre soweit.“ Vorsichtig steuert er die ANNA-LISA aus dem Oste-Riff. Tausende Gänse steigen über Belum auf. Lange, dünne, nicht enden wollende Fäden, schweben schnatternd durch die Luft – unerreichbar für den Fokus meiner Kamera. Am Osteufer in weiter Ferne lassen sich die großen Vögel nieder. Ein Seehund hält auf einer im auflaufenden Wasser schwindenden Sandbank den Bauch in die Sonne. Kaum kitzelt das Wasser seinen Pelz, robbt er einen Meter weiter. Ein dutzendmal wiederholt sich das Spiel, bis der Grund verschwunden ist und die Robbe abtaucht.
Natureum in Sicht. Die ANNA-LISA fährt in die Oste. Letzte Chance für ein Gänsefoto. Und da ist er, der ultimative Moment: Die Gänse, die vor einer halben Stunde dort gelandet sind, erheben sich mit lautem Rufen. Jetzt der Schnappschuss. Zu dumm, der Akku ist leer. Und schon ist der Moment vorbei.

Anmerkung der Crew:

Vielen Dank, Susanne, für diesen sehr anschaulichen Bericht. Wir haben uns sehr über die Veröffentlichung gefreut.